Montag, 9. November 2015

Medienabhängigkeit: Ein marginales Unterschichten-Problem?

Die Medienanstalt Hamburg Schleswig-Holstein gibt ein Magazin mit dem Titel "scout - Das Magazin für Medienkompetenz" heraus, das im zweiten Heft des Jahres 2015 sich mit dem Thema beschäftigt, ob "unsere Gesundheit" durch Mediennutzung gefährdet wird.

Ergebnis: Entwarnung. Also bitte Aufatmen.

Eine zitierte Studie (aus dem Jahre 2007) belege, dass in einer "Meta-Analyse" die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Computernutzung und Fettleibigkeit "nur sehr kleine, nicht signifikante Ergebnisse" erbracht hätte (S.5). Und es wird ein Aufsatz eines in Fachkreisen bekannten Tübinger Forschers angeführt - ebenfalls mit einer veralteten Studie aus dem Jahre 2009 - derzufolge es zwar behandlungsbedürftige Patienten gebe, aber das, "was von besorgten Eltern als 'Online-Spielsucht' betrachtet" werde, meist nur ein "vorübergehendes exzessives Onlinespielen" sei, bei dem es sich aber nicht um eine Sucht handele (S.4). Der Artikel warnt hier vor einer inflationären Verwendung des Suchtbegriffs.

Zitiert wird in diesem Zusammenhang auch der Vorsitzende des Hamburger Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, der Hamburger Kinderarzt Dr. Stefan Renz, der zwar einräumt, in seiner Praxis sprächen regelmäßig "medienmatte Patienten" vor, dies aber auf den Fernseher im Kinderzimmer zurückführt (S.7). Seiner Ansicht nach mache der Druck, perfekt sein zu müssen, die Kinder und Jugendlichen krank, nicht die Konsole (S.8).

Als Problem bleibt dann nur noch "die kleine Gruppe der Extremnutzer, die ihr Leben vor dem Monitor verbringt und ganz sicher einen gesundheitlichen Preis für ihren übermäßigen Medienkonsum zahlen muss […]" und zwar "[a]usgerechnet dort, wo Kinder in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen und ohnehin mit schlechter Gesundheitsvorsorge leben müssen, finden sich auch Formen extremer und kompensatorischer Mediennutzung. Diese wirken sich zusätzlich negativ auf die Gesundheit der Kinder aus." Genannt wird daraufhin explizit ein Stadtteil Hamburgs, der für seine verarmte Bevölkerung sprichwörtlich geworden ist.

Fazit: Medienabhängig sind nur die Unterschichten, das abgehängte Prekariat, mit dem Bewohner aus den bessergestellten Stadtteilen ohnehin nichts zu tun haben möchten.

Es ist sicherlich richtig, genauer hinzusehen, Panikmache und inflationären Gebrauch von Begriffen einzudämmen, aber wer sich als Helfer mit dem Problem beschäftigt, wird schnell feststellen: Medienabhängigkeit kommt in allen Altersklassen und allen sozialen Milieus vor, zerstört Familien und ruiniert das Leben der Betroffenen. Wer es erlebt hat, wird dieser Wortwohl sicher zustimmen.

Es ist aus Sicht einer Beratungsstelle wie der unseren mehr als enttäuschend, dass ausgerechnet die Medienanstalt mit ihrer nur scheinbar "objektiven" Behandlung des Themas das Problem massiv verharmlost - und damit im Trend liegt (in einer Stadt, in der die Computerspiele-Industrie massiv staatlicherseits subventioniert wird). Die Medienanstalt war auf Anfrage nicht einmal bereit, auf Selbsthilfe-Gruppen für Medienabhängige hinzuweisen - zum Schaden für die Betroffenen.

Höchst problematisch ist aus unserer Sicht auch, dass Kinderärzte und Verbandsvorsitzende wie Dr. Renz, die sich in der Öffentlichkeit zum Thema Medienabhängigkeit auf belehrende Weise exponieren, den Zusammenhang offenbar nicht erkennen, der nachweislich besteht zwischen dem Druck, der auf Kinder und Jugendliche durch Elternhaus und Schule ausgeübt wird und vielen Fällen von daraus resultierender Flucht in Computerspiele und damit in die Medienabhängigkeit, sobald sich ein Kontrollverlust über das Mediennutzungsverhalten einstellt.

Die Betroffenen und ihre Angehörigen benötigen Hilfe, gerade auch in Form von finanzieller Unterstützung für alle diejenigen, die den Betroffenen zu helfen versuchen - und werden so durch die Medienanstalt und den Hamburger Landesverband der Kinder- und Jugendärzte nur noch mehr marginalisiert und ausgegrenzt.

Ein Bärendienst für die Betroffenen - im Falle der Medienanstalt sogar noch auf unser aller Steuerzahlerkosten.